Page 12 - Das Leben des Propheten Leseprobe
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das leben des propheten
              diesem schrifttum mitunter sehr erschwert. Diese auf den ersten
              blick geradezu abschreckende „nomomanie“ hat ihre Ursache
              teils in der gemeinsemitischen Vorliebe für genealogische Ver-
              hältnisse, teils – wie im Falle der Prophetenbiographie – in dem
              bedürfnis, die haltung gewisser Familien und stämme gegenüber
              dem Propheten herauszustreichen oder auch herunterzuspielen,
              teils in materiellen und sozialen Folgen, die sich z. b. aus der
              teilnahme eines Vorfahren an einer schlacht auf seiten des
              Propheten ergeben konnten.
                Diese und andere Wesenszüge der Prophetenbiographien
              bringen den Übersetzer ständig in einen Zwiespalt zwischen
              seiner Verpflichtung zur sprachlich genauen und inhaltlich voll-
              ständigen Wiedergabe des textes einerseits und der aufgabe, das
              original lesbar zu machen, andererseits. Im ersten Fall nimmt er
              schwerfällige Formulierungen und eine große Zahl erläuternder
              anmerkungen in Kauf, im zweiten Fall muß er auf manche stili-
              stische eigenart und auf zahlreiche sachliche Inhalte verzichten.
              Goethe nannte einst in seinem Westöstlichen Diwan die erste
              Übersetzungsweise das „niederziehen auf die Wasserebene“
              und charakterisierte sie als äußerst wünschenswert, doch muß
              man wohl hinzufügen, wünschenswert für ihn, der sich berufen
              fühlte, den text dann aus dem Wasser zu holen und selbst in eine
              adäquate Form zu betten. Die vollkommene Übersetzung ist nach
              Goethes ansicht diejenige, die „dem original identisch“ ist, und
              er verwies auf die Voßschen Übertragungen homers, die nach
              an fänglicher ablehnung „dem geistreich-talentvollen Jüngling
              un geahnte rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile zur hand“
              gegeben hätten. aber gerade diese Übersetzungsweise ist für das
              arabische nicht möglich, denn, um mit Friedrich rückert zu
              spre chen, „dazu gehören eine nähere Verwandtschaft oder eine
              in ni  gerere aneignung eines fremden bildungskreises, als deren
              wir bis jetzt uns in bezug auf den orient rühmen können“. aus
              rüc kerts Worten ist die hoffnung zu spüren, diese „innigerere
              aneig nung“ werde eines tages Wirklichkeit werden und jene
              Überset zungen erlauben, die ihm vorschwebten; heute, genau
              einhun dert undfünfzig Jahre nachdem rückert diese Worte
              schrieb, sind wir der innigereren aneignung des islamisch-ara-
              bischen Kultur kreises kaum ein stück nähergekommen, und die

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