Page 8 - Das Elixier der Glückseligkeit_Leseproben
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Al-Ghasâli

               Schrift »Der Befreier vom Irrtum« (Al-munqidh min ed-dalâl)
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               geschildert . Wir sehen ihn in seiner Jünglingszeit beherrscht von
               einem schier unersättlichen Wissensdrang . Die normalen Studi-
               enfächer der orthodoxen Theologie und Jurisprudenz beherrsch-
               te er bald mit viel bewunderter Meisterschaft; doch eine innere
               Anlage, die ihm verbot, irgendetwas auf autoritativem Wege an-
               zunehmen, irgendein anderes Kriterium der Wahrheit anzuerken-
               nen als sein eigenes Denken, trieb ihn in seinen Studien weit über
               den Rahmen der traditionellen Gelehrsamkeit hinaus . Schon früh
               hatte er die Möglichkeit des Autoritätsglaubens verloren und
               wußte, daß er sie nie wieder finden würde, »denn es ist eine Be-
               dingung des Autoritätsglaubens, daß er seinem Träger nicht be-
               wußt ist . Sobald der Autoritätsgläubige merkt, daß er autoritäts-
               gläubig ist, zerbricht das Glas seines Glaubens, und die Scherben
               lassen sich nie wieder zusammenflicken .« So studierte er in rast-
               losem Eifer die Lehren aller Sekten und Philosophen seiner Zeit
               mit solcher Gründlichkeit, daß er von sich sagen konnte, es habe
               keinen Philosophen gegeben, dessen System er nicht vollkommen
               zu verstehen sich bemüht, keinen dogmatischen Dialektiker, des-
               sen Beweisführung er nicht bis zu Ende nachgeprüft, keinen Su-
               fi, in dessen Geheimnisse er nicht einzudringen versucht habe,
               keinen Ketzer, dessen Ketzerei er nicht auf den Grund gegangen
               sei . Ja, es wurde ihm geradezu vorgeworfen, daß er einer Sekte,
               der Bâtinijja, deren Schoß der Mörder seines Gönners Nisâm al-
               Mulk entstammte, in die Hände gearbeitet habe, denn er habe in
               seiner Streitschrift gegen sie ihre Lehre so klar dargestellt, wie sie
               es selbst nie hätte tun können .
                 Doch diese umfassende Kenntnis aller herrschenden Lehrmei-
               nungen, Schulen und Sekten konnte Ghasâlis Durst nach Gewiß-
               heit nicht stillen . Welche hatte recht? Wieweit hatte jede recht? Die
               Beobachtung, daß rings um ihn her die Menschen die verschie-
               densten Anschauungen und Denkweisen als selbstverständliche
               Wahrheiten von Eltern und Lehrern übernahmen, beunruhigte
               ihn und machte ihn mißtrauisch gegen jedes autoritativ übermit-

               1  Traduction nouvelle du traité de Ghasâli intitulé »Le préservatif de l’erreur et
                 notices sur les extases (des soufis)«, par M . C . Barbier de Meynard, Journal
                 Asiatique, 1877, S . 5–94

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